Du hast eine außergewöhnliche Begabung, die sonst niemand hat? Das hat LEO-Autorin Julia Hammer nicht. Kein Talent, keine beeindruckende, einzigartige Fähigkeit. Zumindest hat sie in den vergangenen 33 Jahren noch keine bemerkt.
Schon immer haben mich talentierte Menschen fasziniert. Amy Winehouse mit ihrer unverkennbaren Stimme, der Weltklasseschwimmer Michael Phelps, der mit seinem Talent und Willen 23 Mal olympisches Gold gewann. Ja, auch das musikalische Genie Mozart finde ich bewundernswert. Wer kann schon von sich behaupten, dass er sein erstes Werk mit fünf Jahren komponierte? Vor kurzem habe ich von Teddy Hobbs gelesen, einem britischen Jungen, der mit sage und schreibe drei Jahren das jüngste Mensa-Mitglied, einem Netzwerk für Hochbegabte, ist. Warum? Weil er sieben Sprachen fließend spricht. Ein wahres Wunderkind.
Auch in meinem Freundeskreis finden sich einige Talente. Da wäre die Freundin, die andere so detailgetreu porträtiert, dass das Bild am Ende einem Foto gleicht. Eine Andere, deren wundervoller Gesangsstimme ich stundenlang lauschen könnte. Der Freund, der in jeder Sportart, die er versucht, ein absoluter Überflieger ist.
Und dann wäre da … ich. Es ist nicht so, dass ich nicht nach Talenten gesucht hätte. Ich habe Fußball gespielt, mich in Leichtathletik versucht. Ich habe Klavierunterricht genommen und Bilder gemalt. Das Ergebnis: Eine mittelmäßige Pianistin. Eine Hobbyläuferin. Und ja, ich treffe den Ball auch heute noch – mit etwas Glück landet er sogar im Tor. Doch das Malen … ich will es nicht schön reden. Jeder Vorschüler malt beeindruckendere Werke als ich. Von meinem Gesang will ich erst gar nicht anfangen. Unzumutbar, selbst für meinen Mops, wie er jedes Mal jaulend deutlich macht, wenn ich anfange.
Gut, künstlerische Begabung: Fehlanzeige. Dann muss es doch mit praktischen Dingen klappen. Ich halte mich schon für einen logisch denkenden Menschen. Manchmal zweifle ich allerdings daran. Ein Beispiel. An der Deckenlampe in meiner Wohnung sitzt ein großer Falter. Da ich nicht will, dass er mich nachts im Bett angreift, möchte ich ihn verscheuchen. Also hole ich ein Handtuch und werfe es nach oben. Rückblickend weiß ich, dass das nicht die beste Idee war, denn einige Sekunden später rieseln die Scherben der Glühbirne auf mich. Der Falter: unverändert. Ähnlich geht es mir, wenn ich Möbel aufbauen muss. Ich habe mir eine neue Kommode für das Schlafzimmer gekauft. Die Anleitung studiert, die Schrauben sortiert – und war bereit. Nach dem fünften Brett habe ich gemerkt, dass ich sie falsch zusammengeschraubt habe. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen Vorder- und Rückseite. Ob die Kommode heute steht? Das tut sie – dank einer handwerklich talentierten Freundin, die mir kurze Zeit später mit ihrem Werkzeugkoffer geholfen hat.
Irgendwann habe ich es aufgegeben, nach Talenten zu suchen. Nicht mehr gemalt, nur noch unter der Dusche gesungen, wo mich auch wirklich niemand hören kann. Bis ich vor einiger Zeit von einer Amerikanerin gelesen habe, die mit Anfang 50 mit dem Surfen angefangen hat. Sie hat fünf Jahre gebraucht, bis sie die erste Welle surfen konnte. Auch heute ist sie noch häufiger im Wasser als auf dem Brett, weil sie sich kaum darauf halten kann. Warum sie nicht aufhört? Weil ihr dieser Sport so großen Spaß macht. Sie sagt, es sei völlig in Ordnung, in einem Hobby schlecht zu sein. Solange man es gerne macht. Sie hat recht.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Talent nicht immer der ausschlaggebende Faktor dafür ist, ob wir an etwas Freude haben oder nicht. Ich bin mittelmäßig darin, Schränke aufzubauen? Ich werde keinen Weltrekord im Langstreckenlauf aufstellen? Meine Bilder werden nie in einer bedeutenden Kunstgalerie ausgestellt? Das macht nichts. Trotzdem werde ich nicht damit aufhören, denn es macht mir Spaß. Egal ob wir gut oder schlecht in etwas sind, wir müssen uns erlauben, uns selbst auszuprobieren und unsere Leidenschaften zu leben. Und wer weiß, vielleicht entdecken wir so ja doch noch das eine oder andere außergewöhnliche Talent.